Über Wahlen und Redezeiten

Die Nationalrats- und Ständeratswahlen sind vorbei und ich bin wieder einmal sehr enttäuscht. Nicht über das Ergebnis, das entspricht der Meinung der Wählenden. Sondern über die Stimmbeteiligung. Mit gerade mal knappen 50 % aller Stimmberechtigten wurden die beiden wichtigsten politischen Gremien der Schweiz gewählt. Diese beiden Räte bestimmen zu einem grossen Teil über unser Leben, über die Gewichtung der Werte und Wichtigkeiten. Förderung von Strassen oder Bahnen, Subventionen für Biobauern oder die Milchlandwirtschaft, Kultur in etablierten Häusern oder kulturelle Experimente, die auch einmal scheitern dürfen, bilaterale Verträge mit unseren Nachbarländern oder einem Beitritt zur EU, Krankenkassenprämien senken oder Franchise erhöhen oder gar einer staatliche Gesundheitskasse. So viele interessante Themen stehen auf der nationalen Traktandenliste. Und wir überlassen alle diese Entscheidungen der Hälfte der Stimmbevölkerung. Ganz zu schweigen von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern ausländischer Herkunft, die zwar tatkräftig zum Bruttosozialprodukt der Schweiz beitragen, jedoch nicht wählen dürfen. Das heisst übersetzt: ein knappes Drittel der Bevölkerung bestimmt über die Entscheidungen der nächsten vier Jahre.

Nun könnte man argumentieren, dass das nicht weiter schlimm sei und dieses aktive Drittel jeweils die richtige Wahl treffe. Dem ist aber offensichtlich nicht so, wenn man den Gesprächen im Tram und im Freundeskreis zuhört sowie die Leserkommentare studiert. Frauen schreiben übrigens viel seltener in Zeitungen und Online-Kommentaren, weshalb ich nur die männliche Form verwende. Frauen verschaffen sich weniger Gehör an Ratsversammlungen. Das ist eine Tatsache. So beträgt die Redezeit der Frauen im Gemeinderat nur ein Fünftel der Zeit, die die Männer für sich in Anspruch nehmen. Das Verhältnis im Rat beträgt übrigens im Oktober 2019 33% Frauen zu 66% Männer. Ein eigenartiges Phänomen der Männer im Rat ist das wiederholte Replizieren auf gemachte Aussagen. Das geht so: gibt ein Gemeinderat eine Stellungnahme zu einem Thema ab, muss ihn garantiert ein anderer Gemeinderat einer Falschaussage bezichtigen. Worauf dann der Erste wieder das Wort ergreift, sich rechtfertigt und den anderen angreift und so weiter. Im schlimmsten Fall fühlt sich dann auch noch ein Gemeinderat einer ganz anderen Partei bemüssigt, den Kollegen zu verteidigen und sich damit in Helferglanzlicht zu heben. Ein längeres und teures Spiel für die Stadtkasse.

Frauen machen das nicht, das ist uns zu blöd. Wir denken: ich habe meine Meinung dazu gesagt und die wichtigen Argumente vorgebracht, da gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Überhaupt müssen wir Frauen immer wieder beweisen, dass wir dossiersicher und glaubwürdig sind, dass wir Bescheid wissen und auch kontern können, wenn Ungerechtigkeiten und Unwahrheiten ausgesprochen werden. Aber zugegeben, manchmal fehlt uns auch der Mut, schon wieder zu widersprechen und damit vielleicht nicht mehr als die nette Kollegin wahrgenommen zu werden. Sich unbeliebt zu machen, nicht zu gefallen, das sind die Fallstricke auf unserem politischen Weg. Wir Frauen müssen unbedingt mit unseren Töchtern, Nichten, Freundinnen und Schülerinnen das Selbstverständnis der pointierten politischen Rede üben und weitergeben. Wir müssen einstehen für unser Recht, die eigene Meinung zu äussern, auch wenn sie nicht allen passt.

Kolumne im „Züriberg“, Oktober 2019